Zentralasien: Keine Zigaretten, kein Wodka, kein Internet

Nr. 13 –

Unter härtesten Bedingungen sammeln Fischer im Aralsee die winzigen Zysten der Artemiakrebse, ein begehrtes Fischfutter. Sie machen damit ein gutes Geschäft. Aber wie lange noch?

Fischer am Ufer des Aralsees ziehen sich wasserdichte Schutzkleidung an
Das Wasser ist so salzig, dass es fast nie gefriert. Die Fischer am Ufer des Aralsees sind auf wasserdichte Schutzkleidung angewiesen.

Die Wassertemperatur beträgt minus drei Grad. Das Schlauchboot schwankt auf den rauen Wellen. Der Motor stottert. Würde er endgültig ausgehen, gäbe es keine Chance mehr, ans Ufer zurückzukehren.

Ablatdin Musajew, Biologe der usbekischen Akademie der Wissenschaften, fährt mehrmals im Jahr aufs «Meer». «Niemand sonst ist so verrückt», sagt er. Es gibt kein anderes Boot am Ufer. Es gibt auch keinen Handyempfang, falls er Hilfe bräuchte.

Auf dem Wasser öffnet Musajew seinen Koffer. Er holt ein Salinometer und Planktonnetze hervor. Mit einer sogenannten Secchi-Scheibe misst er die Sichttiefe im Wasser. «Je trüber es ist, desto mehr Zooplankton gibt es», schwärmt er. Aus diesen Daten liest er die Zukunft ab.

Biologe Ablatdin Musajew im Boot unterwegs auf dem Aralsee
Biologe Ablatdin Musajew unterwegs auf dem Aralsee.

Das «Meer»

Musajew arbeitet in Nukus, der Hauptstadt Karakalpakstans. Die autonome Republik nimmt über ein Drittel der Fläche Usbekistans ein, den gesamten westlichen Teil des Landes. Nukus war einst 160 Kilometer vom Aralseeufer entfernt. Heute sind es deutlich mehr, selbst vom ehemaligen Hafen von Muinak aus ist nur noch Wüste zu sehen.

Bis in die sechziger Jahre war der Aralsee das viertgrösste Binnengewässer der Welt. Das Becken, das sich zwischen den Republiken Kasachstan und Usbekistan in der ehemaligen Sowjetunion erstreckte, ernährte Millionen Menschen. Jährlich wurden hier 50 000 Tonnen Fisch gefangen. Man schrieb Gedichte über den Aralsee, malte Landschaften mit Fischern, die pralle Netze aus dem Wasser zogen.

Die sowjetischen Behörden entschieden jedoch, dass für diesen Teil des Imperiums Baumwolle wichtiger werden sollte. Obwohl Zentralasien grösstenteils aus Wüste besteht, dachte die Regierung gross. Die beiden Flüsse Amudarja und Syrdarja, die den Aralsee speisten, sollten zur Bewässerung der Felder genutzt werden.

Fast verschwunden: Der Aralsee

Karte des Aralsees in den Jahren 1960, 2006, 2018 und 2023
Grafik: WOZ; Quellen: NASA, Google Earth

So floss immer weniger Wasser in den Aralsee. Der Pegel sank um bis zu einen Meter pro Jahr. Der Kreml ignorierte die alarmierenden Berichte aus der Region, da sie nicht der Staatsideologie entsprachen, in der der Mensch über die Natur siegt.

Mit dem Schwinden des Aralsees verschwanden die Arbeitsplätze. Die blühende Republik Karakalpakstan verarmte. Die meisten Russ:innen wanderten nach Russland aus, viele Kasach:innen ins benachbarte Kasachstan. Die Karakalpak:innen blieben. Obwohl ihre nationale Identität zu Beginn der Sowjetzeit anerkannt wurde, hatten sie nie einen eigenen Staat. In Usbekistan leben 1,2 Millionen von ihnen.

Monokultur

Wo einst Wellen rauschten, erstreckt sich heute die jüngste Wüste der Welt, die Aralkum. Mit rund 70 000 Quadratkilometern war der Aralsee einst fast doppelt so gross wie die Schweiz. Jetzt ist noch etwa ein Zehntel seiner Fläche übrig. Der Kleine Aralsee liegt im nördlichen Teil des ursprünglichen Beckens in Kasachstan. Im Süden, in Usbekistan, sind mehrere Seen erhalten geblieben, der grösste davon ist der Westliche Aralsee.

Je weniger Wasser das Becken erreichte, desto salziger wurde der See. Immer mehr Fische starben aus. An ihrer Stelle wurden im Meer heimische Arten eingeführt. Doch selbst für sie war das Wasser zu salzig. Zuerst verschwand der Ostseehering, dann die Atherina und schliesslich die Flunder. Seitdem herrscht Artemia allein im Aralsee.

ein Fischer hält Zysten der Artemiakrebse in der Hand, welche aussehen wie Sand
Die Zysten der Artemiakrebse sind etwa einen Viertelmillimeter gross und sehen aus wie Sand. Pro Kilogramm erhalten die Fischer umgerechnet rund zwei Franken.

Dieses Krebstier ist nur etwa einen Zentimeter lang, kann aber in einer Umgebung überleben, die salziger als ein Ozean ist. Unter günstigen Bedingungen pflanzt es sich durch Jungfernzeugung fort. Es ist fast eingeschlechtlich, Männchen kommen nur sehr selten vor.

Wenn es im Wasser zu wenig Sauerstoff gibt oder die Temperatur unter sieben Grad fällt, legt Artemia Zysten im Wasser ab. Im nächsten Frühling erwachen diese Dauereier aus der Dormanz.

Artemia parthenogenetica besiedelte Ende der neunziger Jahre die Überreste des Aralsees. Anscheinend kam sie im Vogelkot hierher. Der Aralsee liegt auf der Wanderroute der Flamingos.

Mr. Artemia

Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war Artemia nur unter Hobbyfischzüchtern bekannt. Doch mit dem Boom der Aquakultur eröffnete sich ein neuer Markt für sie. Richtig getrocknet, verderben die Zysten eigentlich nie. Legt man sie dann in warmes, salziges Wasser, schlüpfen die Larven innerhalb eines Tages. Nach Angaben der Uno-Welternährungsorganisation ist diese leicht verdauliche Proteinquelle das Futter für zehn Millionen Tonnen Zuchtfische und Krustentiere weltweit. Der globale Artemiamarkt wird auf 144 Millionen US-Dollar geschätzt. Bis zum Ende des Jahrzehnts wird eine jährliche Wachstumsrate von zehn Prozent erwartet.

Sein Interesse an Artemia verdankt Abladtin Musajew der Nato. Ihr Programm «Science for Peace and Security» diente der Stärkung der Zusammenarbeit mit der Region. Musajew nahm daran teil. «Da wurde mir klar, dass Karakalpakstan vor einer Chance steht», sagt er. Heute verbringt der 48-jährige Karakalpake viel Zeit am Mikroskop. Und er bereitet Gutachten darüber vor, wie viele Zysten aus dem See geschöpft werden können, ohne die Umwelt zu schädigen. Der Umfang nimmt ständig zu. Im Jahr 2010 wurden 9 Tonnen gefischt, 2018 waren es bereits 2000. In dieser Saison empfiehlt Musajew, maximal 3500 Tonnen abzuschöpfen, etwa sechzig Prozent der Population. Längst haben sich chinesische Firmen in der Region niedergelassen – China ist für fast die Hälfte des Artemiakonsums verantwortlich.

Biologe Ablatdin Musajew und Fischer Nursultan Koschbanow unterhalten sich in einem Zelt
Im selben Zelt: Der Biologe Ablatdin Musajew (links) gibt vor, wie viele Zysten gefangen werden dürfen. Fischer Nursultan Koschbanow versucht, wenigstens einen Teil davon zu erwischen.

Musajews Stelle ist chronisch unterfinanziert. Das Schlauchboot hat er von der Nato, die Forschungsfahrten bezahlt er selbst. Das Schwierigste sei jedoch die Verantwortung: «Im April muss ich vorhersagen, wie viele Zysten im nächsten Jahr gefangen werden können. Wenn etwas schiefgeht, liegt die Schuld bei mir», gesteht er bei einem Glas Karatau, dem berühmten Karakalpakwodka. «Artemia ist ein lukratives Geschäft. Die Behörden schauen allen auf die Finger.»

Im Jahr 2016 wurde Musajew der Wilderei beschuldigt. Die Saison war mittelmässig, obwohl es im Wasser viel Zooplankton gab, von dem sich Artemia ernährt. «Wir begannen, im Frühjahr Zysten zu fangen, und wollten sie zu einem späteren Zeitpunkt zurück in den See bringen, um die Fortpflanzung anzuregen.» Jemand meldete es bei der Polizei. Nach anderthalb Jahren Untersuchung sprach das Gericht Musajew in zweiter Instanz frei. Seitdem ist er vorsichtig.

Der Strand

Am mit gefrorenem Sand, Schnee und Salz bedeckten Ufer stehen verstreut Militärzelte. Sie sind mit Lkw-Planen abgedeckt, von Sandsäcken umgeben. Bei der Hälfte lugt unter dem zerrissenen Material ein Metallskelett hervor. «Wir haben hier echte Hurrikane», sagt Talgat Dschubandikow. Der Wind erreicht über 120 Kilometer pro Stunde.

Dschubandikow überwintert schon zum vierten Mal an diesem Strand. Er nennt den Ort «Sibirien». Dass der eisige Wind aus Russland sein Eigentum zerstört, ist für ihn kein Problem. Schlimmer ist, dass er die Zysten tiefer in den See trägt. Sie auf der Ostseite des Sees zu sammeln, ist keine Option: Der salzhaltige Schlamm zieht sich dort kilometerweit hin. Wasser, das so salzig ist, gefriert fast nie.

Bereits in der Grundschule half Dschubandikow seinem Vater beim Fischen. Heute nimmt der 35-jährige Kasache praktisch jeden Job an. Im Sommer arbeitet er auf Baustellen oder verdingt sich bei der Heuernte. Er sammelte schon Altmetall und versuchte sich als Wilderer. Seine schwangere Frau und drei Kinder warten zu Hause auf ihn. Allerdings sind sechs Monate im Jahr Artemia vorbehalten.

Zelte am Ufer des Aralsee
Wacklige Behausung für eine Saison: Die Fischer schlagen ihre Zelte jedes Jahr dort auf, wo sich das Ufer des Sees gerade befindet.

Dschubandikows Team besteht aus Kollegen aus dem kasachischen Dorf Uchsay. In Karakalpakstan machen Kasach:innen etwa fünfzehn Prozent der Bevölkerung aus. Die kasachische und die karakalpakische Sprache, beide Turksprachen, sind sich so ähnlich, dass die Menschen eine lockere Mischung aus beiden sprechen. Obwohl Karakalpakstan in Usbekistan liegt, ist es kulturell Kasachstan näher. Bis heute behauptet die usbekische Regierung bei den kleinsten Unruhen in Karakalpakstan, politische Machenschaften Kasachstans würden dahinterstecken.

In Dschubandikows Team sind alle gleichberechtigt, jeder wirtschaftet auf eigene Rechnung. Um Artemia zu fischen, braucht es nicht viel: ein Zelt, ein paar Motorräder, einfaches Werkzeug, Benzin, Trinkwasser und Essen. Ausser dem Benzin kauft Dschubandikow alles auf Kredit. Das zahlt sich nach der Saison aus. Im Februar ist Dschubandikows Team immer noch am See, obwohl sie seit Wochen nichts mehr fangen konnten. Die Tage vergehen immer gleich: schlafen, essen, Karten spielen. Man muss die Ausrüstung warten und das Zelt reparieren. Und regelmässig das Ufer beobachten.

Die Fischer waten durch die eisigen Wellen. Die Kleidung ist steif vom Salz, die Hände taub vor Kälte. Eine Zyste ist nur einen Viertelmillimeter gross. In grossen Mengen ähneln sie rosa Sand. Die Fischer sammeln sie mit Schaufeln ein oder fischen sie direkt aus dem Wasser. Das Fischen vom Boot aus ist verboten. Aber Boote gibt es in der Gegend sowieso keine mehr. Auf dem Schiffsfriedhof in Muinak, der Haupttourist:innenattraktion der Stadt, steht eine Handvoll rostiger Kutter. Alle anderen wurden als Schrott zerlegt.

Republik der Armut

Der Zusammenbruch der Sowjetunion brachte Usbekistan die Unabhängigkeit. Unter der Führung des ehemaligen Parteisekretärs Islam Karimow trat das Land in eine neue Ära ein. Er sollte die nächsten 25 Jahre mit eiserner Faust regieren und die Opposition und Privatunternehmen unterdrücken.

Die Aralseeregion hatte für Karimow keine Priorität. Vielleicht weil auch Karakalpakstan die Unabhängigkeit anstrebte. 1991 wurde sie sogar ausgerufen, auf Druck Russlands kehrte die Republik aber zu Usbekistan zurück. Die Regierung in Taschkent garantierte ihr Autonomie mit einem in der Verfassung verankerten Recht auf Abspaltung.

Allerdings kümmerte sich die Regierung nicht um die wirtschaftliche Entwicklung und überliess es internationalen Organisationen, die Auswirkungen der Umweltkatastrophe am Aralsee abzumildern. Als der derzeitige Präsident Schawkat Mirsijojew 2016 die Macht übernahm, wurde ein Entwicklungsprogramm für Karakalpakstan angekündigt. In Muinak wurden die Strassen neu asphaltiert, alte Fischerhäuser durch neue Gebäude ersetzt. Es gibt Pläne, den Tourismus auszubauen.

Laut den Vereinten Nationen leben in Karakalpakstan fast dreissig Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Vor den Geldautomaten warten Menschen in Schlangen auf ihr Gehalt. Es beträgt durchschnittlich 5,4 Millionen So’m pro Monat, ungefähr 380 Franken. Die meisten Autos fahren mit Erdgas, das in der Region gefördert wird. Allerdings muss man auch beim Tanken geduldig sein. Und am richtigen Tag kommen: Beim Kraftstoffverkauf gibt es ein Rotationssystem.

Das grösste Problem ist jedoch der Wassermangel. Und das Salz. Bis zu siebzig Prozent der Aralkumwüste bestehen aus salzigem Sand. Neben Natriumchlorid enthält er andere chemische Verbindungen, die einst von den stark gedüngten Feldern Usbekistans in den See flossen. Salziger Staub wird vom Wind umhergetragen, das Salz dringt auch ins Grundwasser ein.

Ordnung

In einer am Seeufer gegrabenen Erdhütte schläft Nursultan Koschbanow mit einem Rucksack unter dem Kopf. Um den Teekessel herum liegen seine Freunde, in langen Unterhosen und Militärjacken. Sie haben seit einem Monat nicht geraucht. «Zu weit zum Laden. Hier entgiftet man sich – keine Zigaretten, kein Wodka, kein Internet.»

Koschbanow ist neu. Und er hat eine schlechte Saison erwischt. Seit September hat er nur neun Säcke Artemia gesammelt. Dabei wären es an einem guten Tag manchmal sogar zwanzig. Für einen Sack mit dreissig Kilo feuchten Zysten zahlt die Annahmestelle etwa 63 Franken. Jeder Tag ohne Fang kostet Geld, und der 32-jährige Koschbanow ist mit einer dreizehnköpfigen Mannschaft gekommen. Er ist deren Arbeitgeber, rüstet das Team aus, Lebensmittel, Treibstoff und sogar Gummistiefel hat er aus eigener Tasche bezahlt. Er rechnete mit einem grossen Gewinn. Bisher hat er einen Verlust von über 3000 Franken.

Die Zystenannahmestelle befindet sich am Zugang zum Seeufer. Hinter einem Drahtzaun mehrere Lagerhäuser, ein Sicherheitsdienst, ein Büro. Jedes Zelt hat eine Nummer, jeder der mehreren Hundert Fischer hat eine Lizenz und ein Heft, in dem er seine Fänge notiert. Die Regierung hat beschlossen, auf dem Artemiamarkt für Ordnung zu sorgen. «Ihre eigene Ordnung», betont Koschbanow. Seit 2020 ist die staatliche Agentur Aral Artemia Sanaati die einzige, die das Recht hat, Zysten von den Fischern zu kaufen. Mehr als zwanzig Privatunternehmen wurden aus dem Markt gedrängt. Die Fischer hatten die Wahl: für den Staat arbeiten oder gar nicht.

Das Antimonopolkomitee, das usbekische Pendant zur Schweizer Wettbewerbskommission, reagierte schnell. Die Regierung verstosse gegen das Gesetz zum freien Wettbewerb, hiess es in einer Erklärung. Es forderte die gleichen Bedingungen für alle Wirtschaftseinheiten und Unterstützung für bereits bestehende. Präsident Mirsijojew kündigte wiederholt das Ende der zentralen Wirtschaftsführung an, selbst im Baumwollanbau – Usbekistan gehört hier zu den zehn grössten Exporteuren der Welt. Die staatliche Kontrolle über den Artemiahandel ist ein Schritt in die entgegengesetzte Richtung.

Das Monopol bedeute einen völligen Mangel an Kontrolle, behauptet Koschbanow. «Der Staat schaut uns wie durch eine Lupe an, aber das richtige Geld wird oben gemacht.» Am Seeufer munkelt man von staatlichen Betrügereien. Es heisst, dass die kasachische Artemia über Usbekistan nach China gelange. In den Papieren stehe dann, es handle sich um billigen Produktionsabfall. In Usbekistan werde die Ware neu deklariert und dann über die Grenze gebracht. Die Preisdifferenz lande in den Taschen der Beamt:innen.

Koschbanow hat Erfahrung. Er pachtete einst einen kleinen See und beschäftigte Leute. Es gab aber immer weniger Fische, also kamen er und seine Fischer hierher. «Am besten wäre es, wenn unsere Jungs im Geschäft aufsteigen könnten. Seit Jahren frieren sie sich beim Fischen die Hände ab.» Theoretisch unterstützt Taschkent das lokale Unternehmertum und hat sogar Steuererleichterungen eingeführt. Firmen aus dem ganzen Land registrieren jetzt Unternehmen in Karakalpakstan. Die Region hat aber wenig davon.

Schiefe Bahn

In seinem mit Tüten voller Artemia zugestellten Büro testet Abladtin Musajew die Qualität der Ware. «Unsere Zysten sind nicht die besten», gibt er zu. Die beliebtesten sind Artemia franciscana aus dem Grossen Salzsee in den USA. Bis heute stehen die USA an der Spitze der weltweiten Produktion, gefolgt von China, Russland, Kasachstan und Usbekistan.

Es ist jedoch nicht die Qualität, sondern die Quantität, die Musajew Sorge bereitet. Je heisser es wird, desto schneller verdunstet der Westliche Aralsee. Heute beträgt der Salzgehalt 200 Gramm pro Liter und ist damit fast sechsmal höher als im Meer. «Bei 250 Gramm gibt sogar die Artemia auf», sagt Musajew. «Ich möchte nicht unken, aber wir haben noch fünf Jahre.»

Musajew sieht die Chancen in der Zucht: Obwohl neunzig Prozent der Zysten aus natürlichen Quellen stammen, bringt die Kultur Ergebnisse. Die besten in Vietnam, wo im Mekongdelta auf Salzfarmen die Artemiazucht eingeführt wurde. Heutzutage kosten Zysten aus Vietnam bis zu 200 US-Dollar pro Kilo. «Dasselbe könnte auch bei uns klappen.»

Im Jahr 2022 startete die Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit ein Pilotzuchtprogramm. Musajew nimmt daran teil. «Wir brauchen gute Verarbeitungstechnologie, denn sonst können wir nur rohes Produkt verkaufen», sagt er. Ein Kilo trockene Zysten kostet 25 US-Dollar, verarbeitet mehr als doppelt so viel. Mit Vorsicht blickt Musajew in die Zukunft. Ohne eine gute Investitionsstrategie des Staates und des Privatsektors werde es keine nachhaltigen Ergebnisse geben, glaubt er.

Der Weg nach Hause

Talgat Dschubandikow macht sich auf den Weg zurück in sein Dorf. Eine Strasse gibt es nicht, er fährt nach Gefühl und orientiert sich an brennenden Gasförderanlagen. Erdgas ist die Haupteinnahmequelle Karakalpakstans. «Das ist einer der Gründe», sagt Dschubandikow, «warum der See nicht zurückkommt. Die Förderunternehmen würden nicht zulassen, dass wieder Wasser in den Aral fliesst.»

Nach einem halben Jahr am See holt ihn das Leben zu Hause ein. Seine Tochter hat sich den Arm gebrochen. Der Geburtstermin seiner Frau ist im Februar. Nach ihrem Mann gefragt, zuckt sie die Schultern: Ihr Vater und ihr Grossvater waren Fischer, sie waren auch nie da.

Dschubandikow dreht die Autoschlüssel in seinen Händen. Von dem Geld, das er vor einem Jahr verdient hatte, hat er einen gebrauchten Chevrolet gekauft und begonnen, Taxi zu fahren. Dieses Jahr muss er zunächst seine Schulden abbezahlen.

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